Zug um Zug

29.08.2024 – 08:31 Uhr: Das neue Schuljahr steht vor der Tür, und entgegen meinen besten Vorsätzen habe ich noch nichts für Juniors Start in die zweite Klasse vorbereitet. Es sieht also ganz danach aus, dass auch dieses Mal alles „auf den letzten Drücker“ passieren wird. Aber bisher bin ich mit dieser Taktik ganz gut gefahren, sei es beim Lernen für Schule und Studium, bei der Bachelorarbeit – sogar im Berufsalltag beim Einreichen von subventionsstarken Fördermittelanträgen: 23:53 Uhr ist für mich noch überpünktlich. Prokrastination in Perfektion, auch wenn ich mich damit keineswegs als Vorbild sehe. Denn die Aufregung, noch rechtzeitig fertig zu werden, ist jedes Mal immens. Immerhin habe ich meiner Rolle als Klassensprecherin gerecht werdend die Eltern daran erinnert, das Mittagessen für ihre Kinder rechtzeitig vorzubestellen, damit sie – anders als letztes Jahr – nicht wieder leer ausgehen. Und: Die nicht aufgegessene Stulle habe ich selbstverständlich schon am ersten Ferientag entsorgt, bevor sie ein Eigenleben entwickelt.

Juniors bester Kumpel war während der Sommerferien nicht im Hort, und so knüpfte er eine neue Freundschaft mit einem angehenden Viertklässler. Zur Abwechslung finde ich das mal ganz angenehm – in diesem Alter scheinen die obszönsten Ausdrücke nichts Neues mehr zu sein, sodass mich Junior nicht mehr jeden Tag aufs Neue mit seiner erweiterten Wortschatz überrascht. Den Vater dieses neuen Kumpels bezeichnete der Mann einmal scherzhaft als „Schönling“ und behauptete, dieser hätte Ähnlichkeit mit Constantin Schreiber, Journalist und Virtuose, den ich, zugegebenermaßen, ein wenig bewundere (um nicht zu sagen: anschmachte 😉 ). Natürlich ist das Unsinn, aber die Bemerkung bleibt trotzdem jedes Mal in meinem Kopf hängen, wenn ich ihn sehe.

Junior begleitete also neulich seinen neuen Kumpel zum Schachverein. Vor dem Eingang verabschiedete sich „Constantin 2“ rasch mit den Worten: „Du kannst ihn doch sicher nachher mitnehmen, oder?“ Bevor ich auch nur „Äh…“ sagen konnte, war er schon wieder verschwunden. Da stand ich nun mit zwei Kindern, die wild kichernd ihre Figuren über das Schachbrett schoben. Während ich noch darüber nachdachte, wie ich die beiden dazu bringen könnte, das Spiel etwas ernster zu nehmen, betrat plötzlich ein Mann den Raum, von dem ich dachte, ich würde ihn nie wiedersehen müssen: mein ehemaliger Ausbilder aus der Elektrotechnik stand da, als wären die letzten 12 Jahre nie gewesen. Der Typ, der mich damals schikanierte, wo er nur konnte, und fest davon überzeugt war, dass Frauen in der Schule grundsätzlich bevorzugt würden – und dass ich mir als Abiturientin mein Wissen während der Ausbildung gefälligst selbst aneignen müsste. Hatte ich in der Berufsschule gute Leistungen erbracht, kommentierte er diese abschätzig als „Frauenbonus“, während alles, was ich im Betrieb leistete, seiner Meinung nach „scheiße“ war. Der Typ, wegen dem ich während meiner Ausbildung viel zu viel Zeit heulend auf dem Klo verbrachte. Und nicht nur mich hatte er im Visier: Meinen Partner, der damals im gleichen Unternehmen arbeitete, verachtete er genauso offen.

In dem Moment, als ich ihn eintreten sah, überkam mich – vielleicht im Anflug von Wahnsinn – der Impuls, ihm ein freundliches „Lange nicht gesehen und doch wiedererkannt!“ zuzurufen. Doch er beachtete mich gar nicht, setzte sich stattdessen an ein Schachbrett und versank in seinem Spiel, als wäre er der unangefochtene König der Schachwelt. Eine Stunde lang blieb er dort, völlig in Gedanken vertieft, als ob die restliche Welt für ihn nicht existierte – außer natürlich, wenn er zwischendurch einen seiner typischen Witze zum Besten gab, über die nur er selbst lachen konnte. Ja, dieser Mann war schon immer sein größter Fan. Nach nur einer Stunde stand er schließlich auf, packte seine Sachen und verließ den Raum, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Es war fast, als hätte er sich nur kurz sehen lassen, um die Geister der Vergangenheit zu wecken. Wie ich ihn Erinnerung habe – immer darauf bedacht, sich selbst als überlegen inszenieren und anderen nicht mal den Hauch von Respekt entgegenzubringen.

Unterdessen war Juniors Schachspiel zu einer einzigen Gackershow verkommen, bis der Schach-Coach schließlich eingriff und ihn unter seine Fittiche nahm, um das Spiel doch noch in geordnete Bahnen zu lenken und ihn ordentlich zu fordern. Mehr als stolz beobachtete ich, wie Junior den Coach mit seinen durchdachten Zügen überraschte. Zum Schachverein werden wir trotz des Schocks wohl wieder gehen. Und wer weiß, sollte Junior jemals gegen meinen Ex-Ausbilder spielen, könnte dieser dann überlegen, ob Junior seine Intelligenz von mir oder dem Mann geerbt hat. Ich könnte mir vorstellen, dass es ihm schwerfällt, das zu verdauen – vielleicht sogar schwerer als einen seiner Witze.

Graue Party-Maus

20.08.2024 – 22:27 Uhr: Die Sommerferien neigen sich dem Ende zu, und obwohl der Berufsalltag längst wieder begonnen hat, können Junior und ich morgens immer noch etwas länger schlafen. Der Mann hingegen startet früh in den Tag, um im Rahmen seines Vollzeitjobs den sonnigen Nachmittag optimal zu nutzen. Da wichtige Kollegen in meinem Unternehmen aber gerade durch andere Zeitzonen tingeln, habe ich meinen Tagesrhythmus dementsprechend angepasst – und Junior lässt sich ohnehin sorglos in den Tag treiben. Ab und zu genießt er eine Verwöhnpause bei seiner Oma väterlicherseits.

Am vergangenen Samstag besuchten wir zu viert die „Love Parade“ – genauer gesagt die von Dr. Motte 2019 initiierte Nachfolgeveranstaltung im Berliner Tiergarten. Junior ließen wir die Wahl: Entweder ein Benefizspiel der Traditionsmannschaft des 1. FC Union Berlin gegen den heimischen Fußballclub oder die „Tanzparty“, wie Oma und mein Mann es ihm schmackhaft machten. Er entschied sich schließlich für letzteres, und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich widerwillig der fröhlichen Neu-Raver-Truppe anzuschließen – schließlich wollte ich sicherstellen, dass Junior nicht in einem Wirbel aus Beats und Glitzer verloren geht, während der Rest der Truppe völlig in den Rave-Flow abtaucht.

Ich habe nichts gegen die Veranstaltung und mag Techno im Allgemeinen – vorausgesetzt, die Musik hat Melodie und ist tanzbar. Doch wenn der Sound nur aus viel zu schnellem Gehämmere besteht, fällt es mir schwer, die Ästhetik dahinter zu erkennen. Im Tiergarten angekommen, hörten wir die Bässe schon von weitem – und es war auch einiges los. 30 Wägen zogen zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor ihre Bahnen. Oma und der Mann versuchten Junior mit überdrehten Moves zum Tanzen zu animieren, und tatsächlich ließ er sich mitreißen. Ich hingegen trottete genervt hinterher, mit dem festen Entschluss, dem Chaos irgendwie zu entkommen. Junior bekam Gehörschutz auf die Ohren, während ich versuchte, der Menschenmenge zu folgen, ohne den Verstand zu verlieren. Unterdessen hob Oma stolz eine Pfandflasche auf. „Fünfundzwanzig Cent!“, verkündete sie triumphierend, als hätte sie einen Schatz gefunden, und steckte sie stolz in ihren Rucksack. Zum Glück verzichtete sie auf weitere Fundstücke, sonst hätten wir den ohnehin umherwuselnden Pfandjägern noch den Rang abgelaufen. Nach etwa einer Stunde wurde es Junior dann doch zu bunt, und wir machten uns relativ schnell wieder auf den Heimweg – bevor unser aller Synapsen endgültig den Dienst quittierten.

In anderthalb Wochen beginnt dann auch schon das neue Schuljahr – und danach dauert es auch nicht mehr lange, bis ich Mitte 30 werde. Aber das stört mich wenig, denn der weitestgehende Verzicht auf Alkohol und Zigaretten lässt meinen Teint immerhin noch halbwegs frisch erstrahlen. Letztes Jahr habe ich ob der familiären Umstände nicht gefeiert – naja, zumindest fast nicht. Denn mein Bruder hatte genau einen Tag nach mir einen runden Geburtstag, und so wurde mein Ehrentag doch irgendwie Teil der Show. Oma war darüber allerdings nicht sonderlich erfreut, weil sie nicht eingeladen war, was wieder mal zu einem kleineren Shitstorm in meine Richtung führte. Dieses Jahr möchte ich eigentlich auch nicht feiern, weil ich Familienfeste dieser Art schon immer eher als lästige Pflicht empfand. Herumsitzen, mir die neuesten Familienzwistigkeiten anhören und beobachten, wie jeder in seiner eigenen Welt versinkt – das reizt mich wirklich nicht. Vielleicht werde ich stattdessen einfach mal etwas mit meinen Freunden unternehmen, schließlich sehe ich die viel zu selten.

Schnelldurchlauf

07.08.2024 – 21:19 Uhr: Here we go again – seit vier Tagen sind wir wieder zu Hause. Und während Junior nun das Ferienprogramm im Hort genießt, tue ich es dem Mann gleich und maloche wieder, wie der Berliner so schön sagt. Immerhin haben wir noch unsere Sommerresidenz am Baggersee, die am Wochenende weiterhin zum Verweilen einlädt. Und Paris? Brüssel? Amsterdam? Die Städte haben wir natürlich auch genossen. Hier eine Zusammenfassung:

Wie im letzten Beitrag angekündigt, haben wir in Paris die Kuppel der Sacré-Cœur erklommen – 300 Stufen insgesamt, die alle paar Meter mit süffisanten Hinweisschildern über die verbliebene Anzahl der Stufen begleitet wurden. Am Ende bot sich schließlich doch ein schöner Blick über die französische Hauptstadt – non, je ne regrette rien – trotz Regenwetters. Am nächsten Tag erkundeten wir Paris bei strahlendem Sonnenschein zu Wasser mit dem BatoBus und machten an der Notre Dame Halt, die seit dem verheerenden Brand 2019 umfangreich restauriert wird und deren Wiedereröffnung auf Ende dieses Jahres datiert ist. Nach einem weiteren Zwischenstopp am Arc de Triomphe freuten wir uns schließlich auf unser nächstes Highlight tags darauf: das Beachvolleyballspiel im Rahmen der Olympischen Spiele 2024 am Fuße des Eiffelturms. Da wir für den gleichen Tag unsere Weiterfahrt nach Brüssel geplant hatten, hatte ich extra eine private Gepäckaufbewahrung in der Nähe der Veranstaltung gebucht. Doch wie das Leben so spielt, war der Laden geschlossen und wir mussten uns nach Alternativen umsehen. Schließlich konnten wir bei einer Subway-Filiale unseren Krempel loswerden, sodass wir nach einer Stunde Verspätung doch noch zum Spiel gehen konnten. Angekommen herrschte bereits eine ausgelassene Stimmung. Nach jedem Punkt drehte der DJ auf und animierte das Publikum zu „Ace, Ace!“ oder „Block!“-Rufen. Wir ließen uns von der Party – denn etwas anderes war es im Grunde nicht – hinreißen und verbrachten einen großartigen Vormittag, bevor wir schließlich in unseren Zug nach Brüssel stiegen.

Am Rande Brüssels wurden wir herzlich von Christine empfangen, die uns sehr umsorgte. Ihr Haus befand sich am Brüsseler Stadtrand. Es dauerte beim Ausstieg einen Moment, bis ich begriff, dass ihr Stadtteil „Boitsfort“ und das niederländische Pendant „Boosvorde“ der gleiche Ort sind. Ein weiteres Missverständnis ereignete sich tags darauf, denn an der S-Bahn-Station der Linie 8 fährt auch die Straßenbahn mit der gleichen Nummerierung ab – natürlich farblich aufeinander abgestimmt -, sodass Junior und ich mit der S-Bahn einen unfreiwilligen Abstecher in die Provinz unternahmen, anstatt mit der Tram stadteinwärts zu fahren. Hinzu kam, dass die Motivation unserer kleinen Europa-Expedition langsam schwand und wir uns nur noch mühsam zu unserer gebuchten Stadtführung bewegten, die aber dank Waffel- und Pralinenkomponente dennoch ein voller Erfolg war. Zum Atomium kamen wir allerdings nicht – zu weit weg von uns – und auch in Brüssel herrschte zeitweise starkes Regenwetter. Meinen Bildungsauftrag erfüllte ich dennoch, als ich Junior das Gebäude des Europaparlaments zeigte und wir die dazugehörigen Länder der davor wehenden Flaggen durchgingen. Neben Christines Wohnort gab es außerdem einen herrlichen Wald, der uns vergessen ließ, dass wir eigentlich noch immer in einer Großstadt unterwegs sind.

Unsere letzte Station schließlich war Amsterdam. Einquartiert hatten wir uns in einem wunderschönen B&B in Landsmeer, nördlich von Amsterdam. Für die Stadt blieb uns ein voller Tag, den ich sorgfältig mithilfe von ChatGPT vorbereitete. „Geht ins NEMO-Museum“, empfahl die KI, „für 1,5 bis 2 Stunden, ehe es in den Vondelpark geht und ihr den Tag mit einer beschaulichen Grachtenfahrt ausklingen lasst.“ Nun – am Ende blieben wir 6 Stunden im Museum und ließen die übrigen Tagespunkte ausfallen, was zumindest für das Museum spricht – doch von Amsterdam sahen wir im Grunde nicht viel – Amsterdam, we komen zeker nog eens terug!

Nach über 2.700 Kilometern im Zug, zu Wasser und im Flugzeug endete unsere Reise schließlich – wohlbehalten kamen wir zu Hause an. Zur Feier des Tages bereitete uns der Mann eine Pfanne frischer Pfifferlinge zu, die seine Schwester ihrerseits in Schweden gepflückt hatte. Wir versorgten ihn wiederum mit unseren Eindrücken. Was uns am besten gefallen hat? Nun, ich will mich nicht festlegen, aber unser Aufenthalt in Frankreich hat mich an viele schöne Erinnerungen denken lassen, die ich im Rahmen von Schüleraustausch und Sprachreise ohnehin an dieses tolle Land habe und die ich fast schon vergessen hatte. Aber auch die Niederlande stehen weiterhin hoch im Kurs – und sei es, um noch ein paar Nächte mehr in Floras urigem B&B zu verbringen. 🙂